Gestrandet auf dem Ozean der Träume - Der Autor und die Kunst des Nicht-Wartens

Drei der größten Denker des 20. Jahrhunderts haben es bereits gewusst. Die wahre First-World-Hölle ist das Wartezimmer. In Kafkas „Der Prozess“ ist die Folter des armen Josef K. nicht der Umstand, dass er angeklagt wird, sondern die Methode, dass man ihn darauf warten lässt, wie die Anklage eigentlich lautet. Auch Jean-Paul Sartre verlegt in „Geschlossene Gesellschaft“ die moderne Hölle in ein Wartezimmer, wo drei Menschen für ihre Sünden gemartert werden, indem man sie einfach sitzen und warten lässt. Und was Samuel Beckett seinen Protagonisten in „Warten auf Godot“ antut, dürfte jedem bekannt sein. Warten verunsichert, warten zermürbt, warten paralysiert, warten ist das Wachkoma des regen Geistes.

 

Warten ist auch in unserem Alltag ein Zustand, der uns in Unruhe und Aufregung versetzt. Das sprichwörtliche Paar in einem Loriot-Sketch gerät in Streit, weil sie nicht aufeinander warten wollen:

 

„Warum kommst Du nicht?“ – „Weil Du da noch liest.“ – „Ich lese nur, weil Du Deine Fingernägel lackierst.“ – „Solange Du noch liest, kann ich mir wohl meine Fingernägel lackieren.“ – „Solange Du Deine Fingernägel lackierst, kann ich wohl noch lesen.“

 

Wo in festen Beziehungen das Warten lediglich zum Streit führen kann, ist es bei potentiell angehenden Liebschaften geradezu selbstvernichtend. „Ghosten“ nennt man heutzutage das Nicht-Antworten auf Anrufe und Nachrichten und es kann das eigene Selbstbewusstsein mit quälender Langsamkeit in Fetzen reißen. Man fragt sich die ersten Tage, wann eine Antwort kommt, und der Wind der inneren Stimme flüstert: Warum antwortet er/sie nicht? Dann wird der Wind zu einem Sturm, der so etwas brüllt wie: Soll er/sie doch sagen, dass er/sie mich scheiße findet, aber wenigstens antworten! Schließlich ist es ein Orkan, der alles vernichtet, bis man nur noch auf dem einen Satz sitzt: Ich bin einfach zu scheiße, dass man mir antwortet.

 

Natürlich ist man auch als Autor von diesem Phänomen betroffen. Grundsätzlich gibt es drei Arten von Menschen und Dingen, auf die man als Autor immer wartet: Auf Antworten, auf Ideen und auf die Lust zu Schreiben. In allen Fällen sieht die Symptomatik stets gleich aus. Man hat ein tolles Gespräch mit einem Verleger, Agenten, Lektor oder Probeleser, eine großartig anmutende Idee für seine Handlung oder schlicht und einfach nur richtig Bock zu schreiben, weil es einfach fließt. Wie im Rausch segelt man dann bei vollem Wind seinen kühnsten Träumen entgegen mit der festen Überzeugung, dass es nun endlich geschafft ist, dass einen nichts mehr aufhalten kann. Doch schnell folgt die Ernüchterung. Nach dem Gespräch passiert nichts, die Idee ist doch nicht so toll und die Lust am Schreiben ist ohnehin vergangen. Man ist gestrandet, sitzt fest wie auf einer Sandbank im Ozean der Träume. Das Selbstbewusstsein sinkt scheinbar unaufhaltsam gen Null. Was ist passiert? Nichts! Und genau das ist das Problem.

 

Die naheliegende Methode gegen solche Zustände ist Ablenkung. Man beschäftigt sich einfach mit etwas Anderem. Doch der innere Feldwebel meldet sich nach nicht allzu langer Zeit mit dem Hinweis darauf, dass man ja nichts tue, insofern faul und ein bescheuerter Träumer sei, schließlich hat man sich ja vorher bereits auf direktem Weg zu ewigem Ruhm gewähnt. Also klemmt man sich wieder hinter den Schreibtisch und arbeitet, oft mehr schlecht als recht, denn wo es vorher dank des Schreibflusses noch leichtfüßig voranging, wartet man nun durch seinen Text wie durch einen undurchdringlichen Morast. Manchmal hilft es für eine gewisse Zeit, doch immer schwelt die Hoffnung, dass doch jetzt, da man so fleißig ist, auch bitte etwas passieren solle, alles, nur nicht nichts. Also ist man wieder am Anfang: Man wartet.

 

Die Lösung für dieses Problem ist in der Theorie ganz einfach, siedelt sich aber in der Praxis irgendwo zwischen brachial und undurchführbar an: Man muss aufhören zu träumen, oder besser: falsch zu träumen. Denn das Warten ist eine direkte Folge von falschem Träumen. Stellen wir uns das Träumen als unseren Lieblings-Eisbecher vor. Er steht vor uns in einer Eisdiele, wir setzen uns und verschlingen ihn, aber unsere Gedanken sind nur bei einem noch größeren Eisbecher von derselben Sorte. So ziehen wir weiter bis zur nächsten Eisdiele, sehen unseren noch größeren Lieblingsbecher und verschlingen ihn, die Gedanken stets bei einem, der noch größer ist. Aber irgendwann ist da keine Eisdiele mehr und wir warten und warten darauf, dass eine neue kommt, weil wir unsere anderen Eisbecher gar nicht richtig genossen haben.

 

Somit ist es dann vielleicht doch nicht so schwer: Wenn wir den Moment genießen, als Autor wie als Mensch, dann entkommen wir der Hölle des Wartens. Ein tolles Gespräch, eine gute Idee oder eine Phase flüssigen Schreibens sind großartige Erlebnisse, die zu genießen sich lohnen. Die Lösung besteht darin, sich über genau das zu freuen und nicht über das Mega-Buch, den Verlagsvertrag oder den Bestseller, der noch gar nicht da ist. Wenn man den Moment genießt, kommt alles andere schneller, als man denkt.

 

Oder man schreibt einen Text über das Warten… 😊

 (gepostet: 13.9.2021)