Heutzutage bekommen wir, vielmehr noch als in früheren Jahren, das Leben und das Schaffen anderer Menschen auf dem Silbertablett serviert. Täglich müssen wir uns damit auseinandersetzen, warum wir nicht auswandern, ein tolles Essen zubereiten können, ein großes Haus und tolle Klamotten haben oder spätestens mit unserem zweiten Versuch, bunte Geschenkkörbe zu häkeln, ein florierendes Internetgeschäft aufgezogen haben. Mit dem Schreiben läuft das nicht anders. Leute schreiben Manuskripte, die dann wie selbstverständlich einen Verlag bekommen und ebenso selbstverständlich bei den Bestsellern auf Amazon oder gar in der ominösen Spiegelliste auftauchen. Nein, wir sind nicht eifersüchtig, wir gönnen es ihnen ja und bestimmt haben sie diesen Erfolg auch verdient. Und doch denken wir insgeheim: Wenn ich das nicht schaffe, dann muss das, was ich tue, nicht gut, oder zumindest nicht gut genug sein. Sonst wäre ich ja in den Listen, in den Zeitungen und im Fernsehen.
Mit diesen täglichen Eindrücken kreativ zu sein, ist zuweilen eine schwierige Aufgabe. Am besten gehen wir damit um, indem wir uns vor Augen führen, dass der Erfolg eines Autors ganz entscheidend von einem Umstand abhängt: Er darf nicht nur Geschichten schreiben und Geschichten erzählen, er muss selbst eine Geschichte sein. Giulia Enders, die Science-Slammerin und Autorin des Bestsellers „Darm mit Charme“, hat nicht einfach nur ein gutes Buch geschrieben. Sie ist eine hübsche junge Frau, die begeistert über ein doch sehr intimes Thema spricht, nämlich Verdauung, und uns dabei noch etwas beibringt. Zudem ist sie gewissermaßen über Nacht zum Star geworden und das nur, weil sie einmal Lust hatte, an einem Science Slam teilzunehmen. Das ist eine Geschichte, an der viele Menschen immer wieder gerne teilhaben. Wer dann noch ihre sympathisch authentischen Auftritte im Fernsehen verfolgt hat, weiß genau, warum ihre Verkaufszahlen in den siebenstelligen Bereich gewandert sind. Und da ist er wieder, der Reflex: „Ich bin einfach zu normal, zu durchschnittlich, zu wenig gutaussehend, um so etwas zu erreichen.“ Aber es ist nicht so. Jeder Mensch hat eine Geschichte. Man braucht nur …
Charlotte Roche hätte mit ihrem Buch „Feuchtgebiete“ sicher nicht so großen Erfolg gehabt, wenn um diese Geschichte nicht diese Aura geschwebt wäre, dass sie (fast) alles selbst erlebt hat. Natürlich muss jeder wissen, ob er für das Ausplaudern derartiger Intimität bekannt werden will oder das vielleicht lieber doch im Verborgenen lässt. Die Suche nach der richtigen Idee wird dennoch wesentlich vereinfacht, indem wir uns zunächst mit unseren eigenen Erfahrungen auseinandersetzen. Der Leser will diesen Hauch von Authentizität, auch wenn es sich um eine fiktive Geschichte handelt. Ein Schüler kann aus der Schule berichten, ein Kioskbesitzer aus dem Kiosk, ein Sozialarbeiter ... ich sag nur "Schantall, tu die Oma mal winken!"- Bestseller! Also fragen wir uns: Was haben wir erlebt, von dem wir erzählen können? Was aus unserem Leben können wir so darstellen, dass andere uns als zuverlässige Berichterstatter anerkennen?
In den Romanen von Dan Brown lese ich immer wieder dasselbe Autorenportrait: Sein Vater war Mathematiklehrer, seine Mutter Religionslehrerin und so ist er in einem Haushalt aufgewachsen, in dem Wissenschaft und Religion keinen Gegensatz darstellen. Und bums: Illuminati, Der Da-Vinci-Code und wie sie alle heißen. Dabei gibt es Millionen von Lehrerkindern auf der Welt. Das ist sowas von normal! Der richtige Fokus ist entscheidend. Also fragen wir uns: Wie stelle ich meinen eigenen Hintergrund dar? Wie verbinde ich mein Buch mit meinem Leben und meinen Erfahrungen?
In meinem Leben habe ich lediglich ein Seminar zu Kreativität besucht (es war sehr gut!) und etliche an der Universität selbst gegeben. Es macht immer Spaß, weil Kreativität etwas mit dem Überschreiten von Grenzen zu tun hat. Man durchforstet die eigenen verkrusteten Denkweisen und kommt so zu neuen Dingen, Erkenntnissen und Erfahrungen. Allerdings ist die Erwartung falsch, man könne Kreativität lernen. Gerade in Deutschland, wo wir immer noch unserer antiquierten Vorstellung bestimmter Menschen als "Genie" nachhängen, glauben viele, sie wären nicht kreativ und einige von ihnen, man könne es aber lernen. Das braucht man gar nicht und ehrlich gesagt halte ich diesen Markt von Büchern und Veranstaltungen zu Kreativität in dieser Hinsicht für Geldmacherei. Es ist toll, mit Menschen zusammenzusitzen oder auch mal ein solches Buch zu lesen. Letztlich ist es dennoch immer dasselbe und trotzdem laufen die Druckereien heiß von den ständigen Outputs über dieses Thema. Also, hofft nicht auf Wege, wie man kreativ wird. Ihr seid es schon und zwar alle, wie Ihr da seid!
Für Kreativität gibt es nur eine unbedingte Voraussetzung: Offenheit. Denn sie bedeutet schlicht und ergreifend nichts anderes, als Dinge miteinander zu verbinden, die bislang nicht verbunden worden sind. So entsteht Neues, selbst aus den banalsten Fakten und Situationen. Für die Wissenschaft gebe ich in Seminaren immer folgendes Beispiel: Es ist ganz einfach herauszufinden, wie das Wetter an einem Tag ist, man braucht nur aus dem Fenster schauen. Es ist auch relativ einfach herauszufinden, wie viele Autos im Uniparkhaus stehen, man braucht sie nur zählen. Stelle man sich nun aber vor, man könne beweisen, dass das eine mit dem anderen zu tun hat; dass es zum Beispiel immer regnet, wenn mehr als hundert Autos im Parkhaus stehen, das wäre bahnbrechend! Verbindet also, was das Zeug hält, alles, vielleicht kommen dabei viele absolut sinnlose Ergebnisse zustande. Aber wenn Ihr lange genug durchhaltet, ist auch immer eine Superidee dabei.