Ein Gastbeitrag von Lisa Völker
Lisa Völker studiert Germanistik und Anglistik an der Universität Duisburg-Essen und hat bereits an mehreren Schreibseminaren teilgenommen. Neben ihrem Studium treibt sie viel Sport, ist ausgebildete Karatelehrerin und hat auch als Sängerin bereits erste Bühnenerfahrung gesammelt. Das Schreiben ist für sie eine Belohnung nach einem langen Tag. Am liebsten schreibt sie im Bereich Fantasy. Im Moment arbeitet sie an einer Geschichte über den Konflikt zwischen einem Königshaus und den Geistern der Natur. Außerdem hat sie einen Buchblog auf Instagram mit dem Namen Violet Writing.
Als Person mit einem stressigen Job, einer Familie und einem Haustier bewundert man oft diejenigen, die es schaffen, neben den Herausforderungen des alltäglichen Lebens einen Roman zu schreiben. Dabei ist nicht die Rede von einem Roman mit 120 Seiten über das Nachbarsmädchen und dessen Vorliebe für Pistazien. Gemeint sind die richtigen Schinken von mindestens 500 Seiten, die meistens auch noch Teil einer mehrbändigen Reihe sind, in denen sich eine ganz neue Welt ausgedacht wurde, abseits von unserer Realität und unseren Vorstellungen. Wie schaffen es AutorInnen, sich derart komplexe Geschichten auszudenken, wenn man sich doch zusätzlich mit Versicherungen und Steuern auseinandersetzen muss?
Diejenigen, die denken, man hätte keine Zeit, die Realität hinter sich zu lassen, um in Fantasiewelten zu verschwinden, haben meist aus den Augen verloren, dass sich alle Menschen bereits in den ersten Lebensjahren die wildesten Geschichten ausgedacht haben. Auf dem Spielplatz waren wir Prinzessinnen und Ritter, haben gegen Drachen gekämpft und sind quer über den Ozean gesegelt, um den größten Schatz der Welt zu entdecken. Dabei kamen uns immer Räuber in die Quere oder die böse Königin wollte uns nicht gehen lassen. Sicherlich waren nicht alle Handlungsstränge unserer Spiele in sich schlüssig, aber darum geht es in diesem Stadium des Erschaffens einer Geschichte nicht.
Als Kinder hatten wir alle die blühendsten Fantasien – man darf sie nur nicht aus den Augen lassen. Mit dieser kindlichen Fantasie, einem Stift und ganz viel Papier lassen sich auch im stressigen Alltag fantastische Welten erschaffen. Man muss lediglich von der Sorge loslassen, dass etwas unsinnig, unschlüssig oder albern sei. Das haben wir als Kinder schließlich auch nicht getan. Wenn uns auffiel, dass etwas keinen Sinn in unserem Spiel ergab, dann haben wir das Spiel so lange verändert, bis alles wieder passte.
Eine Sache, die wir als Kinder auch alle getan haben, ist das Malen – egal ob mit Buntstiften, Kreide oder Wachs. Dieses kindliche Malen steht für das Mischen von Farben, das Ausprobieren der Stifte auf dem Papier und das Beste aus allem machen, was zu Papier kommt. Um im stressigen Alltag dennoch den ausgetüftelten, fiktiven Roman zu schreiben, müssen wir die Aspekte des Malens und des Geschichtenerzählens miteinander kombinieren.
Indem wir, völlig frei von jeglichen Ansprüchen an unser Gemaltes, beginnen, Fabelwesen, Orte oder Gegenstände zu malen, müssen wir uns nicht zunächst passende Worte dazu ausdenken. Das ist meist der Punkt, an dem Leute sagen, dass sie nicht kreativ genug seien, ein Haus zu beschreiben. Wenn wir aber ein gemaltes Bild eines Hauses mit vielen Details und mit vielen verschiedenen Farben vor uns sehen und unsere einzige Aufgabe darin besteht, zu beschreiben, was wir vor uns sehen, fällt es den meisten sehr leicht.
Um also das Abenteuer Roman Schreiben zu starten, setzen wir uns zunächst an den ersten Schritt von vieren und malen drauf los. Wir malen mehrere Orte, beispielsweise zwei Häuser, einige Räume von innen, einen Teich und ein Stück Wald. Dann machen wir uns an ein paar Personen jeden Alters, dabei ist es egal, wenn der ältere Mann eine krumme Nase bekommt. In der Geschichte könnte man in diesem Fall zum Beispiel schreiben, dass er als Jugendlicher gegen eine Glastür gelaufen ist und keiner seiner Ärzte, auch nach mehreren Operationen, es geschafft hat, diese wieder zu richten. Wenn wir das auch geschafft haben, malen wir noch einige Gegenstände, beispielsweise ein Buch, einen Tennisschläger und eine Pfeife.
Je mehr wir uns in diesem ersten Schritt Zeit genommen haben, viele verschiedene Bilder zu malen, desto einfacher wird uns der nächste Schritt fallen. Jetzt geht es daran, den Orten Personen zuzuordnen und den Personen Gegenstände. Dabei können auch Dopplungen vorkommen. Wenn wir sortiert haben, geht jetzt die kreative Schreibarbeit los, indem wir uns jeweils einen Ort vorknüpfen und diesen beschreiben. Es wird jedes Detail beschrieben, was auf dem Bild zu sehen ist. Danach werden die zum Ort passenden Personen beschrieben und im Anschluss noch die Gegenstände. Hierbei kommen schon einige Seiten zusammen und wir haben noch nicht einmal richtig angefangen.
Im nächsten Schritt werden die Personen miteinander verknüpft. Wichtig ist hierbei, dass möglichst nicht diejenigen miteinander in Verbindung gebracht werden, von denen man es sowieso erwarten würde. Ein klassisches Beispiel wäre hierfür, nicht die Prinzessin mit dem Prinzen zu verknüpfen, sondern die Prinzessin mit dem Rattenfänger und den Prinzen mit der Tochter des Stammkneipenbesitzers. Es ist von großer Bedeutung, in diesem Schritt die Sorgen vor dem Unsinnigen ganz weit aus den Gedanken zu verbannen, denn hier wird unsere Geschichte am spannendsten. Durch solche verqueren Beziehungen werden wir unsere späteren LeserInnen zum Nachdenken bringen und zum Weiterlesen anregen.
Im letzten Schritt passiert es dann, dass sich unsere Geschichte von ganz allein entwickelt, ohne dass wir uns noch groß anstrengen müssen. Wir haben beim Malen und Verknüpfen bereits so viele spannende Details über unsere Personen und Orte herausgefunden, sodass wir, wenn wir uns nun einen Stift zur Hand nehmen, gar nicht mehr aufhören können auszuschreiben, was wir uns zuvor in dieser spielerischen Übung ausgedacht haben. Und bevor wir "Quidditch" sagen können, steht der erste Entwurf unseres Manuskripts, der nun lediglich noch etwas Feinschliff braucht.
Für unser jetziges Glück und das Verwirklichen unseres Ziels, einmal ein Buch zu schreiben, müssen wir uns nur ein Beispiel an unserem früheren Selbst nehmen. Wir müssen uns und unsere Gedanken in eine Zeit zurückversetzen, in der wir uns nicht von Logik und Selbstzweifel haben beunruhigen lassen. Indem wir das machen, was wir als Kind getan haben, um uns kreativ auszuleben, können wir uns das Ausdenken von Geschichten um einiges erleichtern. Das haben wir nämlich alle nie verlernt, sondern sind lediglich etwas aus der Übung gekommen.
Das bedeutet also, dass es jetzt an der Zeit ist, unsere alten Wachsmalstifte und den Wasserfarbkasten rauszusuchen, bei einer Tasse Tee dann einfach den Stift auf ein Blatt Papier setzen und schauen, in welche Welt er uns tragen wird. (gepostet: 25. Februar 2022)