Element of Crime - Weißes Papier (1993)

Quelle: www. amazon.de
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1. Mehr als sie erlaubt

2. Draußen hinterm Fenster

3. Weißes Papier

4. Schwere See

5. Und du wartest

6. Du hast die Wahl

7. Sperr mich ein

8. Immer unter Strom

9. Das alles kommt mit

10. Sommerschlußverkauf der Eitelkeit

11. Alten Resten eine Chance

 

 

Bin ich eigentlich der einzige, der an der dichten Atmosphäre dieses Albums immer wieder kaputt geht? Den das Album sanft und Stück für Stück in die Knie zwingt, weil ein Song nach dem anderen sich tief im Herzen festsetzt, bis man einfach ein Schild aufhängen will: Wegen Überfüllung geschlossen?

 

Mein halbes Leben geht das jetzt schon so. Mit zarten 20 Jahren hatte ich meine erste Metalphase überstanden und stieß fast schon monatlich auf Bands, die ich seitdem halbgottähnlich verehre, weil sie mir einzigartige Erfahrungen beschert haben. Zwischen die Gehirne waschende Komplexität von Genesis, dem aufwühlenden Pathos von Dream Theater und die alles entwaffnende Ruhe von Dire Straits schlichen sich fast unbemerkt auch Element of Crime, zuvorderst mit diesem Album, aber auch mit dem Vorgänger „Damals hinterm Mond“. Es sind gegenüber diesem anderen Meisterwerk nur kleine Nuancen, die mich „Weißes Papier“ als das beste Album wählen lassen. Ich mache nun einmal den kläglichen Versuch, dies zu begründen.

 

Das Wichtigste ist eingangs schon gesagt. Dieses Album enthält einfach nur sehr gute, wenn nicht gar geniale Songs. Keine Ausfälle, keine Füller, nicht einmal solche, die dem Gesamtton merklich zu entfliehen vermögen. Es klingt wie aus einem Guss. Das mag zunächst verwundern, wenn nach dem Snare-Schlag am Anfang die schräge Bläsermelodie von „Mehr als sie erlaubt“ ertönt, in der die Niedertracht einer Frau besungen wird. Denn die nächsten drei Lieder schlagen erst einmal ruhigere Töne an. „Draußen hinterm Fenster“ legt die poetische Ader menschlicher Verwirrung sanftmütig offen, bevor das Herz das erste Mal so richtig am dreckigen Kneipenboden festklebt. Denn „Weißes Papier“ ist wahrscheinlich eines der traurigsten Liebeslieder, die je geschrieben wurden. Die Nordlichter lassen Element of Crime dann richtig raus, wenn es mit „Schwere See“ zu einem Lied kommt, das einfach zu viel wunderbaren Salzwassergeschmack hat, um es als reine Allegorie zu verstehen.

 

Halten wir einmal kurz inne: „Ich frage Dich nicht, wo Du herkommst, Du sagst mir nicht, wo wir sind, wir sitzen hier fest, was auch immer geschieht, verwirrt, träge und verliebt“ (Draußen hinterm Fenster). Das Rauschen der See und das Rauschen im Kopf, der Rausch der Reise und der Rausch eines vom Schicksalsdunst geschwängerten Kneipenraums. Der Lyriker Regener bombadiert unser Gemüt mit stetig neuen Bildern. Doch der Band gelingt auch das, was mir der EOC-Frontman in meinem einzigen Interview mit ihm über Musik beigebracht hat: „Ein Lied ist mehr als die Summe aus Musik und Text.“ Das klingt profan, aber so ist das mit den tiefsten Wahrheiten: Sie zu verstehen, ist nicht das Problem. Sie zu erkennen, das macht den Weisen aus. Dass die mathematische Formel „1+1=2“ in der Kunst als organisches Phänomen nicht gilt, sondern eben „1+1=3“, zwei Elemente, die zusammen etwas Neues ergeben, das vorher nicht da war, ist nur eine der fundamentalen Erkenntnisse, die mir Sven Regener innerhalb von 45 Minuten vermittelt hat. Dieses Interview war ein Meilenstein in meiner Bildung. Seine Texte dienen mir seither auch immer wieder als Inspiration, wenn ich das Gefühl habe, eine Szene in meinen Geschichten hat nicht genug Atmosphäre. Aber das nur nebenbei.

 

Gehen wir weiter mit dem Album. Der absolute dramatische Höhepunkt ist für mich das folgende Lied „Und du wartest“. Er wartet „… auf ein Zeichen von ihr“. Wann hat ein Mensch jemals jahre-, vielleicht sogar jahrzehntelange Sehnsucht in so eine kurze Liedform gepresst? Das hält man doch im Kopf nicht aus! Gut, dass mit „Du hast die Wahl“ endlich zumindest die persönliche Begegnung mit der Liebsten wieder möglich ist, auch wenn sich der Mann, wie in einigen Regener-Texten, eigentlich nur zum Affen macht. Schließlich bietet sich auch noch die Lösung an, die totale Unterwerfung als ultimatives Glück, wie es in „Sperr mich ein“ geschildert wird. Beide Lieder kommen eher ruhig daher und bereiten die Ohren auf den vielleicht fröhlichsten Moment der Platte vor: „Immer unter Strom“, ein wenig tragisch zwar schon, aber der Rhythmus in diesem Lied über jene Menschen, die überall gleichzeitig sein wollen, gibt ihm schon etwas Aufheiterndes.

 

So denn zum Finale: Hatten wir mit „Weißes Papier“ eines der traurigsten, so hat dieses Album ebenfalls „Das alles kommt mit“, eines der schönsten Liebeslieder aller Zeiten. In solchen Momenten gelingt es Regener immer wieder, ein Bild von einem Menschen zu zeichnen, indem er aufzählt, welche Dinge in seiner Wohnung stehen oder worüber er sich täglich ärgert. Die kleinen Fehler, die Unzulänglichkeiten: „Das alles kommt mit, das brauchen wir auch.“ Nur „die Hoffnungen, die du verloren hast, der Zorn der nie richtig verraucht und die Nächte, in denen du nicht wusstest wohin mit dir, die nehmen wir nicht mit, die lassen wir hier“. Liebe in ruhigen, aber unendlich tiefen Gewässern. Will jetzt noch einer fragen, was Liebe ist?

 

Der „Sommerschlussverkauf der Eitelkeit“ als vorletztes Lied ist eine wunderbar ironische Hommage an sektgetränkte Small-Talk-Orgien der Selbstbeweihräucherung. Kennt jeder, ist wunderbar inszeniert. Schließlich „Alten Resten eine Chance“, ein absolut würdiger Rausschmeißer. Der Morgen nach der Party: „Ein Salat darf nie mit Nudeln sein, denn sowas rächt sich bitterlich!“ Fundamentale Weisheiten, die jeder nachvollziehen kann und ein abschließender Liebesakt auf dem Schlachtfeld eines gefeierten Festes. Das war es.

 

So wie ein Lied mehr ist, als die Summe aus Musik und Text, ist auch dieses Album mehr als die Summe der Einzelstücke.  Es ist ein wunderschönes Stück Leben, Liebe, vielleicht eine der intensivsten Platten, die ich jemals gehört habe, obwohl, oder gerade weil der Stil von Element of Crime eher ruhig und undramatisch ist. Sie haben in ihrem Bandleben nicht nur gute Alben geschrieben, aber dieses gehört definitiv in alle Plattenschränke landauf, landab. Sprache, Musik, Atmosphäre, Herz, es ist in jeder Hinsicht genial! Aber sei’s drum, einfach hören, ich kann’s eh nicht ausreichend beschreiben. Also lassen wir es bei den letzten Worten des Albums:

 

„Doch genug der schönen Worte, es geht auch, ohne dass man spricht …“ (gepostet 15.2.2018)